Reicht zuhause testen aus? Schnelltests und die Teststatistik

Die Frage nach den wöchentlichen Neuerkrankungen an COVID-19 navigiert weiterhin unsere politischen und persönlichen Entscheidungen. Wie wir das Infektionsrisiko bewerten, mit welchen Mitteln wir uns schützen und wie wir in Zukunft weiter vorgehen – all das hängt maßgeblich von der Antwort auf diese Frage ab.

Seit einigen Wochen diskutiert Deutschland nun eine mögliche Untererfassung der 7-Tage-Inzidenz. Während immer mehr Testzentren aufgrund der geringeren Sommernachfrage schließen, signalisieren analysierte Abwasserproben und Systeme zur Überwachung von Atemwegsinfektionen Hinweise auf höhere Fallzahlen. Die kommunizierte 7-Tage-Inzidenz, die für Entscheidungen jeglicher Art maßgebend ist, basiert gemäß der aktuellen Falldefinition ausschließlich auf PCR-Testergebnissen. Antigen-Schnelltests, egal ob im Labor oder zu Hause ausgewertet, werden in dieser Kennzahl nicht berücksichtigt. Im Vergleich zu Antigen-Schnelltests sind PCR-Tests häufig genauer und sorgen dafür, dass lokale Ausbruchsgeschehen mit großer Sicherheit korrekt erkannt werden können. Geht die PCR-Testmenge zurück, werden relative Trends zwar weiterhin sichtbar - die Größenordnung der Neuinfektionen lässt sich jedoch deutlich schlechter einschätzen.

Verschiedene Forschungsansätze versuchen nun, diese Dunkelziffer zu präzisieren. Mittels der Fragebogendaten von 28.274 Datenspender:innen, in denen wir Testergebnisse und Testart (z.B. PCR-Test und eben auch Antigen-Schnelltests) aufgezeichnet haben, wollen wir dazu beitragen, die Situation mit einem weiteren Puzzleteil besser einzuschätzen.

Was zeigen unsere Daten?

Unsere Analyse besteht aus zwei Schritten: Zuerst wollen wir wissen, wie sich die offizielle 7-Tage-Inzidenz von der “Datenspende”-Inzidenz unterscheidet, die auf euren berichteten Testergebnissen basiert. Danach untersuchen wir Hinweise auf einen Rückgang der PCR-Testrate und wollen wissen, welche Rolle dieser Effekt für das Infektionsgeschehen spielt.

Als erstes benötigen wir die Datenspende-Inzidenz: Hierfür teilen wir für jeden Tag die Anzahl aller von euch berichteten positiven Tests durch die Anzahl aller abgegebenen Fragebögen. Aus diesem Ergebnis bilden wir den 7-Tage-Mittelwert, und multiplizieren das Ergebnis mit 100.000. So können wir die Fallzahlen pro 100.000 Datenspender:innen abschätzen, und unsere Werte näherungsweise mit der offiziellen Inzidenz vergleichen.

Abb. 1: Vergleich der offiziellen Inzidenz (dunkelblau) mit der “Datenspende-Inzidenz” (hellblau-gestrichelt).
Wir sehen, dass sich die beiden Inzidenzen bis zum Ende des ersten Quartals recht ähnlich entwickeln, auch wenn sich die Größenordnungen der Zahlen nicht unbedingt gleichen. Teile des Unterschieds sind darauf zurückzuführen, dass sich unsere Gruppe der Datenspender:innen von der Allgemeinbevölkerung unterscheidet (mehr dazu später).

Richtung Juni entkoppeln sich die Verläufe jedoch über das bisherige Maß hinaus. Wir vermuten, dass diese Entwicklung möglicherweise mit dem Rückgang der PCR-Tests zusammenhängt. Um diese Hypothese zu untersuchen, haben wir im nächsten Schritt das Verhältnis aus PCR- und Schnelltests in unseren Daten gebildet und mit dem Verhältnis der beiden oben angegebenen Inzidenzverläufe verglichen.

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Abb. 2: Inzidenzfaktor und Schnelltest-Überschuss im Zeitverlauf. Die beiden Kurven hängen sehr stark miteinander zusammen.

Die blaue Linie zeigt, um wie viel Mal die Datenspende-Inzidenz die offizielle PCR-Inzidenz übersteigt - wir nennen dies den “Datenspende-Inzidenzfaktor”. Im ersten Quartal sehen wir, dass unsere berechnete Inzidenz im Durchschnitt rund das Dreifache der offiziellen Daten widerspiegelt. Dieser Wert bleibt über das Frühjahr hinweg nahezu konstant. Der Überhang kann zum Beispiel dadurch entstehen, dass sich unsere Gruppe durchschnittlich öfter testet und so mehr Infektionen erkennt oder eben auch, weil unsere Datenspender:innen nicht repräsentativ für die gesamtdeutsche Bevölkerung sind.

Ab Juni beobachten wir jedoch eine Veränderung im bis dato stabilen Verhältnis. Die beiden Inzidenzen entkoppeln sich immer stärker. Das bedeutet: Die Datenspende schätzt zum selben Zeitpunkt wie die offizielle Statistik eine deutlich höhere Inzidenz. Der Datenspende-Inzidenzfaktor steigt. Woran liegt das?

Ein Grund könnte der angenommene Rückgang der PCR-Tests sein. Wenn immer weniger Menschen ihr Schnelltest-Ergebnis per PCR-Methode bestätigen, fehlen diese Infektionen in der offiziellen Statistik. Um der Annahme auf den Grund zu gehen, haben wir für jeden Tag das Verhältnis aus den von euch berichteten Schnell- und PCR-Tests berechnet (“Schnelltest-Anteil”) und stellen dies in der Abbildung oben durch die grüne Linie dar. Ein Wert von 0,5 bedeutet, dass an einem Tag halb so viele Antigen-Schnelltests wie PCR-Tests eingegangen sind. Liegt der Wert bei 1, sind exakt gleich viele Schnelltests wie PCR-Tests erfasst worden. Werte über 1 zeigen an, dass mehr Schnelltests als PCR-Tests vorliegen (dies kommt nur einmal kurz im Juni 2022 vor).

Wir sehen, dass die beiden Kurven (also Inzidenzfaktor und Schnelltest-Anteil) sehr stark miteinander zusammenhängen. Im ersten Quartal bleibt der Schnelltest-Anteil mit Ausnahme kleinerer Schwankungen auf einem ähnlichen Niveau. Ab Mitte Mai beobachten wir jedoch auch hier ein starkes Wachstum beider Kurven. Und das bedeutet: Wenn mehr Infektionen mit Schnelltests statt PCR-Tests gemeldet werden, unterscheidet sich die Datenspende-Inzidenz von der offiziellen Statistik immer deutlicher. Diese Beobachtung erlaubt uns, die steigende Inzidenz und den geringeren PCR-Test-Anteil zusammenzubringen.

Auch die nachfolgende Grafik zeigt: Es gibt in unserer Gruppe einen deutlichen Rückgang an PCR-Tests. Während zum Jahreswechsel noch rund 70-80 % aller gemeldeten Infektionen durch einen solchen Test bestätigt wurden, sind es zum jetzigen Zeitpunkt nur noch rund 50-60 %.

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Abb. 3: Der Anteil an PCR-Tests (grün) nimmt immer stärker ab, Schnelltests (blau) werden dagegen häufiger gemeldet. Die Differenz zu 100% ergibt sich durch Antikörpertests, die wir in dieser Analyse nicht berücksichtigen.

Wie sind die Ergebnisse einzuordnen?

Unsere Datenspender:innen weichen in bestimmten Charakteristiken von der gesamtdeutschen Bevölkerung ab. Die Gruppen können daher nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden. Unterschiede existieren beispielsweise hinsichtlich Alter und Geschlecht, vermutlich auch in Bezug auf den sozioökonomischen Status und den Bildungsstand. Das Infektionsgeschehen innerhalb unserer Datenspender:innen-Gruppe unterscheidet sich also vermutlich von dem in der Gesamtbevölkerung.

Dennoch halten wir fest: Die PCR-Tests in unserer Kohorte gehen zugunsten von Antigen-Schnelltests um rund 30 Prozent zurück. Für die offizielle Inzidenz entsteht so ein blinder Fleck im Infektionsgeschehen, der die tatsächliche Inzidenz vermutlich deutlich höher ausfallen lässt, als zurzeit berichtet.

Was ist jetzt wichtig?

Auch wenn der genaue Faktor der Dunkelziffer nach wie vor unklar ist: Auch wir sehen in unseren Daten Hinweise darauf, dass die aktuell kommunizierte 7-Tage-Inzidenz das Infektionsgeschehen unterschätzt. Vor dem Hintergrund des vorherrschenden und stark ansteckenden Omikron-Subtyps BA.5 möchten wir auf dieses Thema aufmerksam machen. Politik, Gesellschaft und Wissenschaft brauchen ein aussagekräftiges offizielles Lagebild, um informierte Maßnahmen ableiten zu können. Deshalb bitten wir euch: Wenn ihr euch positiv auf COVID-19 testet, lasst eure Infektion zusätzlich mit einem PCR-Test bestätigen.

Jede Person, die einen positiven Schnelltest vorlegen kann, hat nach aktueller Testverordnung in Deutschland ein Recht auf einen PCR-Test. Auch, wenn der Schnelltest ein Selbsttest zu Hause war.

Ein direkter PCR-Erregernachweis hilft zudem dabei, die Erkrankung eindeutig zu belegen. Mit einem PCR-Test tragt ihr also nicht nur aktiv zur genaueren Schätzung einer wichtigen epidemiologischen Kennzahl bei, sondern sichert auch gleichzeitig eure gesundheitliche Zukunft.

Jakob Kolb
Alumnus

Ex-academic, now focused on well tested, maintainable and scalable applications.

Marc Wiedermann
Alumnus

Researcher and Data Scientist with strong interests in time series and network analysis, predictive models and low-dimensional dynamical systems for the spread of human behavior.

Robert W. Bruckmann
Robert W. Bruckmann
Master Student

Intrigued by human (health) behavior.

Annika Rose
Annika Rose
PhD Student
David Hinrichs
Alumnus
Dirk Brockmann
Dirk Brockmann
Professor

Head of Research on Complex Systems Group